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1. September 2023

Arabischer Zuwachs in der BRICS Gruppe – die geopolitischen Implikationen und die Chancen für Deutschland I Eindrücke aus der arabischen Welt I September 2023

Was ist passiert?

Einladung zur Mitgliedschaft für vier Staaten aus dem Nahen und Mittleren Osten: Im Rahmen des 15. Koordinierungsgipfels der sogenannten BRICS-Staaten im südafrikanischen Johannesburg, zu denen Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika gehören, wurden sechs Staaten eingeladen, ab 1. Januar 2024 sich der Gruppe anzuschließen. Dazu gehören neben Äthiopien und Argentinien mit Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE), Iran und Ägypten vier Staaten aus dem Nahen und Mittleren Osten. Bislang haben die VAE, Iran und Ägypten die Einladungen akzeptiert, während Saudi-Arabien noch keine abschließende Entscheidung getroffen hat, die Option aber ernsthaft in Erwägung zieht.

Keine geeinte Position innerhalb der BRICS: 2009 kamen die damaligen BRIC-Staaten zum ersten Mal im russischen Jekaterinburg zusammen, ehe 2011 Südafrika aufgenommen und die Gruppe zur BRICS erweitert wurde. Seitdem treffen sich die Mitgliedsstaaten regelmäßig und versuchen, sich als Alternative und Gegengewicht zum von den USA dominierten globalen Wirtschaftssystem bzw. zur G7-Gruppe, der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds zu positionieren. Bei dieser Strategie verfolgen die einzelnen Mitglieder allerdings keine einheitliche Strategie: Während China und Russland die Gruppe nutzen, um eine Emanzipierung vom Westen voranzutreiben und sich insbesondere in Zeiten des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine als anti-westliches Lager zu präsentieren, sehen die anderen Mitglieder eine solche Polarisierung skeptisch und streben nach wirtschaftspolitischer Diversifizierung.

Wirtschaftlicher Aufstieg: Wirtschaftlich haben sich die BRICS-Staaten als globale Schwergewichte etabliert, da sie etwa 26% des weltweiten Bruttoinlandsprodukts (BIP) sowie 18% des Welthandels bestimmen. Dieses enorme wirtschaftliche Potenzial wurde in den letzten Jahren allerdings hauptsächlich von China bestimmt, das 2021 über 70% des BIP der BRICS ausmachte: Die Wirtschaft der Volksrepublik ist bedeutender als die Brasiliens, Russlands, Indiens und Südafrikas zusammen, gleichzeitig ist China ein wichtiger Wirtschafts- und Handelspartner für diese vier Länder. Sollte die Anzahl tatsächlich auf elf Mitglieder steigen, würde die BRICS-Gruppe eine Weltbevölkerung von 3,7 Mrd. Menschen umfassen.

Überschaubare Erfolge: Insbesondere die Gründung der New Development Bank (NDB) im Jahr 2015 muss als größte Errungenschaft erwähnt werden, verfügt die Bank mit einem Kapitel von USD 50 Mrd. über signifikante Einlagen, um Infrastruktur- oder Entwicklungsprojekte in Entwicklungsländern zu finanzieren. Zur NDB gehören neben den BRICS-Ländern auch Bangladesch, Ägypten und seit 2021 auch die VAE. Seit ihrer Gründung hat die Bank Anleihen in Höhe von USD 30 Mrd. bewilligt, bleibt mit diesen Aufwendungen bislang allerdings deutlich hinter der Weltbank zurück, die allein 2022 USD 100 Mrd. an Finanzmitteln zur Verfügung stellte. Weiterhin haben die BRICS-Staaten einen Notfallfonds (Contingency Reserve Arrangement, CRA) mit einem Volumen von USD 100 Mrd. ins Leben gerufen, um wirtschaftlichen und finanziellen Krisen vorzubeugen. Darüber hinaus bleiben die bisherigen Erfolge jedoch überschaubar. Da interne Konflikte wie zwischen Indien und China, die Sorge vor einer wachsenden Dominanz der Volksrepublik sowie zunehmende Spannungen mit Russland im Zuge des Ukraine-Krieges die Einheit der Gruppe schwächen, dient BRICS bislang vor allem als symbolische Plattform für die Bemühungen nicht-westlicher Staaten, eine unabhängige Wirtschaftspolitik in Zeiten einer multipolaren Weltordnung zu betreiben. So bewegt sich der Handel innerhalb der BRICS-Gruppe mit 5% aller Auslandsinvestitionen im Jahr 2020 auf niedrigem Niveau.

Warum ist das relevant?

Diversifizierung der Partnerschaften: Die möglichen Beitritte von Saudi-Arabien und den VAE kommen nicht überraschend, sondern wurden in beiden Ländern bereits länger diskutiert. Riad und Abu Dhabi passen ihre außenpolitischen Agenden an die sich neu ordnende Geopolitik an, indem sie Partnerschaften diversifizieren, ihre Position im Kontext der chinesisch-US-amerikanischen Systemrivalität stärken und sich aus ihrer traditionellen Nähe von den USA lösen. Anstatt weiterhin als Erfüllungsgehilfen des Westens wahrgenommen zu werden, weiten sie ihre Allianzen mit China, Russland und anderen Mitgliedern der BRICS-Staaten aus. In einer multipolaren Weltordnung sind die VAE und Saudi-Arabien darauf angewiesen, sich keinem Lager zuordnen zu lassen, sondern als selbstbewusste Mittelmächte eine auspendelnde Politik der Balance zu verfolgen. Der mögliche Beitritt zur BRICS-Gruppe unterstreicht diesen Trend zu einer nationalistischen Politik der Partnerdiversifizierung. Gleichzeitig streben beide Staaten allerdings nicht danach, ihre Neutralität zu Gunsten eines pro-chinesischen und pro-russischen Lagers aufzugeben, sind sie doch auf eine enge Partnerschaft mit den USA angewiesen und wollen eine Eskalation aufgrund einseitiger Parteinahme vermeiden. Dennoch dient ihr Beitritt auch als klares Signal an den Westen, sich als unabhängige Akteure in einer sich verschiebenden Weltordnung positionieren zu müssen, und fungiert dabei als Symbol der jeweiligen Nation-Branding-Strategien.

Ausweitung des wirtschaftspolitischen Einflusses:Saudi-Arabien und die VAE verstehen sich als aufstrebende global agierende Wirtschaftsmächte, die sich mit umfassenden Investitionen in den Logistik-, Unterhaltungs-, Tourismus-, Sport- oder Kulturbereich langfristig aus der Abhängigkeit vom Erdöl lösen wollen. Dafür streben sie nach neuen Handelsbeziehungen sowie einer Stärkung von globalen Netzwerken und Marktzugängen. Ihr (möglicher) Beitritt zur BRICS-Gruppe dient diesen Ambitionen. Gleichzeitig verfügen beide Staaten bereits über sehr enge wirtschaftliche und politische Beziehungen zu China: Dis Volksrepublik fungiert mit einem Anteil von 19,8% im Fall Saudi-Arabiens bzw. 14,9% im Fall der VAE als wichtigster Handelspartner, sodass der BRICS-Beitritt auch dazu dient, diese Beziehungen noch auszuweiten. Weiterhin ist China der wichtigste Abnehmer emiratischen und saudischen Erdöls. Insgesamt machen die Staaten der BRICS etwa 37% der saudischen Energieausfuhren und 33% der emiratischen Mineralölexporte aus und bilden gemeinsam mit Japan, Südkorea und südostasiatischen Ländern die wichtigsten Absatzmärkte für beide Golfstaaten. Gleichzeitig haben sich die VAE längst als einflussreiche maritime Logistikmacht etabliert und wollen diese Netzwerke mithilfe der BRICS-Mitgliedschaft ausbauen. Insbesondere Staaten wie Brasilien, Argentinien oder Südafrika sind aus Sichtweise der emiratischen Logistikstrategie interessante Partner.

Stärkung der globalen Gestaltungskräfte: Interessanterweise könnten mit Iran und Saudi-Arabien zwei Staaten der BRICS-Gruppe beitreten, die sich in den letzten Jahrzehnten in einem wechselhaften Konkurrenzkampf um die Vormachtstellung am Golf befunden haben. Doch die kürzliche Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen seit 2016 unter chinesischer Vermittlung hat die Annäherung beider Rivalen beschleunigt, die sich innerhalb der BRICS-Gruppe fortsetzen könnte. Iran hat einer Aufnahme bereits zugestimmt. Folgt auch Saudi-Arabien, könnte dies als weiteres Zeichen einer regionalen Deeskalation gewertet werden, und beiden Staaten als vertrauensbildende Maßnahme dienen. Gleichzeitig unterscheiden sich die Interessen beider Staaten gravierend: Iran betrachtet die BRICS-Gruppe als anti-westliches Konstrukt und als Chance, der internationalen Isolation durch die implementierten Sanktionen zu entfliehen. Saudi-Arabien sieht einen möglichen Beitritt stattdessen als Gelegenheit, als einflussreiche Stimme des „Globalen Südens“ noch mehr Gewicht auf der Weltbühne zu erhalten. Diese Rolle strebt der ambitionierte Kronprinz Muhammad bin Salman an, der die BRICS-Staaten als Forum nutzen möchte, um das Königreich als Verfechter multilateraler Konsenslösungen zu präsentieren, der auch die Interessen nicht-westlicher Akteure vertritt und damit an internationaler Strahlkraft gewinnt. Dieses Vorgehen zeigt sich u.a. bei der Ausrichtung des Ukraine-Gipfels, der kürzlich in der saudischen Hafenstadt Dschidda stattfand. Darüber hinaus sieht sich Riad in einer Scharnierfunktion, zwischen pro-westlichem und anti-westlichem Lager zu vermitteln – eine Rolle, die sich mit einem BRICS-Beitritt noch stärken ließe und die der iranischen Position widerspricht.

Was passiert in Zukunft?

Anpassung der Finanzpolitik: Saudi-Arabien und die VAE könnten nach ihrem Beitritt der finanziell angeschlagenen New Development Bank (NDB) neue finanzielle Reserven zukommen lassen, um ihre multilateralen Partnerschaftsmodelle im Rahmen der BRICS+-Gruppe zu stärken. Die NDB leidet unter den internationalen Sanktionen seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und benötigt neue Einlagen. So kündigte der emiratische Wirtschaftsminister Abdulla bin Touq Al Marri bereits an, der Bank neue Gelder zukommen zu lassen, ohne konkrete Summen genannt zu haben. Dennoch sollten auch hier keine überzogenen Erwartungen geweckt werden: Traditionell engagieren sich Saudi-Arabien und die VAE in ihrer finanzpolitischen Unterstützung eher auf bilateraler Ebene über ihre eigenen Entwicklungsbanken und -fonds und betrachten verstärkte multilaterale Kooperationen oftmals mit Skepsis. Im Bereich der humanitären Hilfe stellen Saudi-Arabien und die VAE zwar vermehrt finanzielle Unterstützung für UN-Institutionen zur Verfügung, sind allerdings zunehmend frustriert, da solche finanziellen Beiträge selten zu einer Aufwertung des politischen Mitspracherechts in multilateralen Gremien geführt haben. Bei der NDB könnte man sich daher eine verstärkte Rolle in der Entscheidungsfindung erhoffen, gleichzeitig bleibt aber das Grundvertrauen in die Organisation überschaubar. Weiterhin existieren Überlegungen, ein alternatives globales Finanz- und Währungssystem zu etablieren und die De-Dollarisierung voranzutreiben. Insbesondere Iran wird solche Überlegungen unterstützen, um mit einer Reservewährung die Dominanz des US-Dollars zu brechen. Brasilien und China haben vereinbart, den bilateralen Handel über die jeweiligen Landeswährungen abzuwickeln, China und Russland praktizieren dies bereits. Zwar sehen auch die VAE und Saudi-Arabien solche Pläne mit gewissem Wohlwollen, möchten allerdings ihre Partnerschaft mit den USA nicht mit einer solchen Finanz- und Währungspolitik gefährden. Deswegen könnten Differenzen über diese Frage auch die innere BRICS-Einheit gefährden und den iranisch-saudischen Konflikt intensivieren.

Was bedeutet das für Deutschland und Europa?

Geopolitische Machtverschiebung verstärkt sich: Die Erweiterung der BRICS-Gruppe zeigt erneut die geopolitische Machtverschiebung auf der globalen Landkarte und zeugt von einem wachsenden Interesse nicht-westlicher Staaten, enger zu kooperieren und sich abzustimmen. Dieser Trend fordert die traditionelle Vormachtstellung der USA in der internationalen Politik weiter heraus.

Stärkung von Netzwerken und Kooperationsmodellen ist notwendig: Deswegen sollten Deutschland und Europa versuchen, ihre wirtschaftlichen und politischen Netzwerke zu Staaten wie den VAE und Saudi-Arabien zu nutzen, um eine Abwendung vom Westen zu verhindern und Alternativen anzubieten. Dies kann insbesondere durch intensivierte Wirtschaftsbeziehungen in Feldern wie erneuerbare Energie, Bildung und Ausbildung, Klima- und Entwicklungspolitik, Digitalisierung oder Wissenstransfer erreicht werden. Saudi-Arabien und die VAE sind weiterhin angewiesen auf eine wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Europa und Deutschland.

BRICS-Beitritt als Aufforderung an Europa: Der Beitritt zur BRICS-Gruppe sollte als Aufforderung an Europa und explizit an Deutschland gewertet werden, dass sich ohne verstärkte Bemühungen von deutscher und europäischer Seite Staaten wie Saudi-Arabien oder die VAE mehr denn je nicht-westlichen Partnern zuwenden könnten. Umso wichtiger wäre es, eine Gesamtstrategie zum Umgang mit den Golfstaaten zu entwickeln, die neben wirtschaftlicher Kooperation auch andere Themenfelder wie Sicherheit oder Umweltschutz umfasst, um verlorengegangenes Vertrauen wiederherzustellen und existierende Potenziale besser auszunutzen.  In Zeiten der multipolaren Neuordnung wäre es sinnvoll für Deutschland und andere westliche Industriestaaten, sich stärker auf die Golfregion als strategisch wichtiger Wirtschafts- und Investitionsstandort zu konzentrieren, Netzwerke zu stärken und konkrete Angebote für intensivierte Partnerschaften zu unterbreiten. Die Golfmonarchien sind zu wichtig geworden, als dass sie ignoriert werden könnten. Diesem Umstand sollte die deutsche Politik noch mehr Rechnung tragen, indem ein langfristiger und strategischer Ansatz gewählt wird, um Potenziale besser auszuschöpfen und politisch enger zu flankieren.

BRICS-Wachstum als Chance für Deutschland: Das Wirtschaftswachstum des BRICS-Raums macht diesen aufgrund seines höheren Anteils am globalen BIP noch bedeutender für die deutsche Exportwirtschaft. Von institutionalisiertem Handel zwischen BRICS-Ländern könnte daher Deutschland im Hinblick auf Lieferketten und Logistikwege noch stärker profitieren. Insbesondere die prosperierenden Volkswirtschaften in den VAE und Saudi-Arabien zeigen weiterhin hohes Interesse an einer Zusammenarbeit mit Deutschland im Energiebereich, dem Technologieaustausch und anderen Sektoren.

Wirtschaftliche Stabilisierung durch BRICS-Anbindung: Einzelne BRICS-Länder können durch die BRICS-Anbindung wirtschaftlich stabilisiert und gestärkt werden. Dies könnte vor allem für Ägypten gelten. Die De-Dollarisierung könnte den Wertverfall des ägyptischen Pfundes bremsen und so Ägypten sowohl als Absatz- als auch als Investitionsstandort für die deutsche Industrie interessanter machen. Die weiteren Mitglieder der BRICS werden ebenfalls ein strategisches Interesse haben, die Wirtschaft Ägyptens mit Direktinvestitionen und Krediten zu stützen. Insbesondere für Saudi-Arabien und die VAE bleibt Ägypten aus politischen und wirtschaftlichen Gründen ein wichtiger Partner, der in der Vergangenheit massiv finanziell unterstützt wurde. Durch den BRICS-Beitritt könnten solche Hilfsleistungen stärker koordiniert und an Reformbemühungen Ägyptens geknüpft werden.

Neuer finanzieller Spielraum für die NDB: Durch zukünftige Einlagen aus Saudi-Arabien und den VAE könnte der finanzielle Spielraum der NDB wachsen, was zu einer Zunahme von bedeutenden Infrastrukturprojekten in Mitgliedsländern der NDB führen kann. Solche Projekte könnten auch für deutsche Infrastruktur- und Baukonzerne interessant sein.

Auswirkungen einer möglichen De-Dollarisierung: Die De-Dollarisierung soll auf dem nächsten BRICS-Gipfel in Moskau im kommenden Jahr weiter diskutiert werden. Sollten einige BRICS-Staaten stärker als bisher auf andere Währungen wie den chinesischen Yuan setzen, hätte dies auch Auswirkungen auf Export- und Investitionschancen der europäischen Industrienationen. Auch in Saudi-Arabien wird die Abkopplung vom US-Dollar intensiv diskutiert, wie bereits im Januar 2023 vom saudischen Finanzminister Mohammad Al-Jadaan betont worden war. Da das Königreich jedoch enge wirtschaftliche Beziehungen mit den USA pflegt und trotz politischer Unstimmigkeiten in den letzten Monaten wieder auf Ausgleich und Dialog bedacht ist, wird eine De-Dollarisierung mit besonderer Sorgsamkeit behandelt werden.